Je älter ich werde, desto heftiger finde ich die Aussage „Früher war alles besser“. Nachdem ich dem Satz oft nachgespürt hatte, kann ich sagen: Die Menschen, die den Satz sagen, meinen ihn auch so. Ich hoffte, sie meinten „früher war alles anders“, doch leider nein. Leben heißt Veränderung und der Prozess beginnt am Tag der Zeugung und endet mit dem Tod. Jeder Tag, jede Stunde, jede Sekunde ist neu und einmalig und reicht für eine bedeutsame Veränderung.
Unser „früher“ war damals das „Hier und Jetzt“. In meiner Jugend hörte ich u. a. Böhse Onkelz und ein Refrain lautet: Ein neuer Tag, neues Glück, sieh nach vorne, nie zurück. Denn gestern war heute noch morgen. Ein neuer Tag, neues Glück, was zählt, ist nur der Augenblick. Denn gestern war heute noch morgen“.
Ein Rückblick, eine Erinnerung kann wunderschön, beglückend, traurig, schmerzvoll oder oder sein. Doch sie sollte immer ein Bumerang sein, der über den Rückblick wieder in das Hier und Jetzt schleudert.
Allein schon die Diskussion, ob Schulen Jogginghosen und bauchfreie Oberteile verbieten sollen, zeigt, wie wichtig der Perspektivwechsel auch bei dem Thema „früher“ ist.
Früher war alles…
Früher wurden Werte nonverbal gelebt und vieles lief unter „Anstand“. In meiner Kindheit war es für mich selbstverständlich, dass ich nach der Schule die „gute“ Kleidung auszog und im Garten die Kleidung trug, die dafür vorgesehen war. Ich wusste, dass es um den Erhalt der „guten“ Kleidung ging und um die Freiheit beim Toben. Die Freiheit konnte ich mit der „alten“ Kleidung voll leben, denn an Grasflecken musste ich keinen Gedanken verschwenden.
Früher trug ich Sporthosen im Sportunterricht, in der Schule oder im Verein. Anfang meiner 20er Jahre wurde die „alte“ Kleidung durch die Hauskleidung abgelöst. Meistens Jogginghosen oder bequeme Jeans. Doch das ist die Zuhause-Kleidung, in der sehen mich meine Familienmitglieder und maximal mal ein Paketdienstleister. Ich höre noch heute von sämtlichen älteren Verwandten ein „das gehört sich nicht“, wenn wieder mal jemand mit einer Jogginghose zum Bäcker reinhuscht. Doch ich muss sagen, dass Jogginghosen für mich persönlich unter die Sportkleidung fällt. Ich weiß auch noch, wie in den 90ern die Jogginghose mit den seitlichen Knopfleisten in der Schule für Empörung sorgte.
Wo ist der Anfang und wo ist das Ende?
Wenn eine Jogginghose von einem Designer ist, ist diese Hose dann auch damit gemeint? Wie sieht es mit Leggings, Jeggings und anderen sportiven Hosen aus? Dazu dann noch bauchfrei und die Diskussion ist eröffnet. Verbot oder nicht. Ist es denn bauchfrei, wenn der Bauchnabel raus blitzt oder wenn das Oberteil direkt unter den Brüsten aufhört?
Wir brauchen Werte, keine Verbote
Allein schon die „bauchfrei-Diskussion“ macht mich rasend. Bauchfrei hat für mich nicht nur mit der Kleidung zu tun, sondern auch mit einer inneren Haltung. Wie wird ein Mädchen, eine Teenagerin, eine heranwachsende Frau in das Frau sein eingeführt? Wie sieht die Einladung aus, der eigenen Weiblichkeit zu begegnen? Ein Körpergefühl zu entwickeln, ist kein Selbstläufer. Sich selbst und seinen Körper sehen, respektieren und schätzen ist eine Lernaufgabe, die Frauen an Frauen weitergeben sollten.
Warum nur Frauen, stimmt. Viele Väter wissen genau was ich meine, da sie wissen, wie heranwachsende Männer sein können, worauf sie reagieren. Die sexuelle Aufklärung ist nicht nur Sex und Verhütung. Das Geschenk dahinter, die Vereinigung, die Verbindung zweier Menschen ist so viel mehr. Die respektvolle Begegnung auf allen Ebenen, ganz bewusst mit dem eigenen Körper und dem des Gegenübers.
So viele Eltern raten ihren heranwachsenden Teenagern ein klares Nein auszusprechen, Grenzen zu setzen und zu respektieren. Doch wie denn, wenn nicht klar ist, welcher Schatz zu bewahren ist?! Dass Coolness kaltlassen sollte, sagen die wenigsten Erwachsenen. Sprang doch schon fast jede heranwachsende Frau auf einen „Bad Boy“ an.
Mensch sein, der menschliche Körper sollte Wärme nicht nur durch Körpertemperatur kennen, die innere Wärme sollte berühren. Das darf auch beigebracht werden, auf Augenhöhe, nicht belehrend.
Also nein, für mich ist es nur traurig, dass wir eine Diskussion haben, denn früher hätte der Anstand noch den Weglotsen gespielt. Heute brauchen wir keine Kleiderordnung von außen, sondern lebenserfahrene Menschen, die junge Menschen unterstützen, ihr Mensch sein zu würdigen. Menschen die Werte aufzeigen und Einladungen aussprechen, die Mut machen, eigene Werte zu finden und zu leben.
Ich danke all meinen Jugendfreundinnen, denn im Nachhinein, wussten wir so viel mehr, als uns damals klar war, nur half uns niemand es zu benennen. Eine Radlerhose unter dem Rock, damit wir nicht darauf achten müssen, wie wir uns hinsitzen. Wir wollten nicht „billig“ wirken und unser Höschen rausblicken lassen. Freiheit pur! Werte können auch durch ein Ausschlussverfahren geformt werden.